Aufsätze und Kommentare zur Lyrik

 

Auf dieser Seite werden in loser Folge kleinere Abhandlungen über Lyrik aus Zeitungen, Zeitschriften, Büchern usw. referiert, die mir zufällig in die Hände gekommen sind und mit dem Schreiben von Gedichten und ihrer Analyse, Interpretation und Beurteilung in Zusammenhang stehen.

 

Den Anfang macht das 2007 erschienene renommierte »Jahrbuch der Lyrik« (Die schönsten Gedichte aus 25 Jahren), dass seit 1980 alljährlich im S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, erscheint und von Christoph Buchwald u.a. herausgegeben wird. Der Jubiläumsband enthält 240 Gedichte (ausgewählt aus etwa 2700) von 128 Autoren/innen, von denen 26 gereimt sind, also nur rund 10 % und eine Nachbemerkung des Herausgebers (Der 25. Band - Ein Zwiegespräch), in der es unter anderem um die Ansichten des Autors zur Lyrik geht, worauf ich weiter unten zurückkomme.

 

Die magere Ausbeute an gereimten Gedichten in der Gegenwartslyrik, für die das »Jahrbuch«, die wohl wichtigste Anthologie zeitgenössischer Lyrik, einen guten Überblick bietet, veranlasste mich zu dem folgenden Gedicht, das ich gegen meine eigene Regel, keine unveröffentlichten Gedichte auf meiner Internetseite aufzunehmen, hier vorab mitteile:

 

 

 

    MANFRED BURBA

   Der Reim ist tot …

 

 

    Der Reim ist tot, wir haben ihn begraben,

    das große Reimeschmieden ist vorbei.

    Man soll von Toten ja nichts Schlechtes sagen:

    Es geht auch ohne Reim und Reimerei!

 

    Wir jungen Dichter hassen seine Zwänge,

    in unsern Werken kommt er gar nicht vor,

    wir fühlen uns beengt durch seine Enge

    und haben unsern eigenen Humor.

 

    Wir schreiben freie Verse ohne Ende

    und lassen unsern Rhytmen freien Lauf.

    Der Reim ist tot, wir reiben uns die Hände,

    und alle jungen Dichter atmen auf.

 

    Doch fürchten wir, er könnte auferstehen,   

    bei vielen ist er nach wie vor beliebt,

    das Reimeschmieden könnte weitergehen,

    solang es Reime und Gedichte gibt.

 

 

"Sie haben bei diesem Gedicht ganz genau den Finger auf den aktuellen Trends in der modernen Lyrik - nämlich dem Trend zum freien, reimlosen Vers. Aber ich sehe in Ihrem Werk auch eine Hommage an den Reim - eben durch ihre genutzte Reimform und das Versmaß, dass Sie fast immer sehr gut durchhalten. So liest sich Ihr Gedicht sehr flüssig und es regt zum Nachdenken über Lyrik an, eben weil Sie es schaffen, etwas zumeist schon für tot Erklärtes formal wieder aufleben zu lassen. Dieser Bruch wirkt! Ansonsten kann ich nur sagen: Super! Gefällt mir!"


Peggy Salomo, Dresden

(Freie Lektorin im "Verlags- und Autorenservice - Lektorate, Korrektorate, Autorenbetreuung" in einem Schreiben an den Autor vom 2. August 2009)

 

Das vorstehende Gedicht wurde im Frühjahr 2010 aus einer Vielzahl von Einsendungen zur Frankfurter Bibliothek 2009 (Gedichtwettbewerb 2009) von einer Jury ausgewählt (3 Gewinner) und mit einem Vollstipendium für ein kostenloses Fernstudium "Literarisches Schreiben" an der CORNELIA GOETHE AKADEMIE, Frankfurt/Main, prämiert (Nachricht vom 05.05.2010). Der 12 monatige Kurs wird mit einem "Schriftstellerdiplom" und einer eigenen Veröffentlichung (in einer aus den besten Beiträgen der Absolventen zusammengestellten Anthologie, d.i. Der Frankfurter literarische Lustgarten) abgeschlossen.

 

  Die Idee zu meiner Internetseite kam mir nämlich beim Schreiben dieses Gedichtes, das auch schon den Titel der Seite enthält. Von da war es dann nur noch ein kleiner Schritt (zusammen mit meinem Enkel Sven Reiprich) bis zur Realisierung meines Internetauftritts.

 

Zur literarischen Qualität von Gedichten


Die Frage nach der literarischen Qualität eines Gedichts führt uns zurück zu dem Artikel von Christoph Buchwald im »Jahrbuch der Lyrik 2007«, sie wird gleich zu Anfang seiner Nachbemerkungen gestellt und als Auswahlkriterium für die Aufnahme von Gedichten in das Jahrbuch gefordert.

 

Literarische Qualität setzt die Kenntnis des Materials, des Handwerks und der Traditionen voraus. Dazu gehören im Einzelnen die Beherrschung der sprachlichen Mittel (Klang, Rhythmus, Wortwahl usw.) und Erfindungsreichtum (Bilder, Metaphern, Assoziationen usw.) sowie Beherrschung des lyrischen Handwerks (Vers, Reim, Form, Dramaturgie usw.) und die Kenntnis ihrer Wirkungen. Es gilt, diese „spezifischen Möglichkeiten“ des Gedichts zu nutzen, um als Lyriker zur „Erforschung von Welt, Mensch und Dasein“ beizutragen, und zwar unabhängig von zeitgebundenen Inhalten, ideologischen Überzeugungen und kurzfristigen Meinungen. Dabei sind nach Goethe etwa 90 % handwerkliches Können („Transpiration“) und 10 % Talent erforderlich, denn Gedichte werden in harter Arbeit gemacht und sind keine spontanen Eingebungen, wie viele Leser immer noch glauben möchten.

Zum Verstehen und Beurteilen von Gedichten sind Kenntnisse in der Kritik und der Lyrik erforderlich. Sich dabei nach dem „Geschmack“ zu richten, ist nach Buchwald „ein vollkommen unbrauchbares Instrument“. Er stellt verschiedene Richtlinien für den Leser von Gedichten auf, die ihm bei der qualitativen Einschätzung des Gelesenen helfen können:

 

Gute Gedichte vermitteln Assoziationen, die über die Bedeutung der aktuell verwendeten Wörter hinausgehen, beachten sorgfältig die Wortwahl und die sonstigen sprachlichen Mittel und ihre emotionalen Wirkungen auf den Leser, fördern den Spaß an der Sprache, was vorrangig gegenüber dem Verständnis schwer zugänglicher Aussagen ist, sie werden gemacht und sind sprachlich verdichtete Kunstwerke, für die der Geschmack wie bereits erwähnt kein Qualitätskriterium ist, sie vermitteln Erfahrungen und sind „unser Gedächtnis von Zeit“, d.h. sie ist in ihnen aufgehoben, sie sind Ausdruck eines sonst nicht vermittelbaren „Lebensgefühls“, einer „Zeitstimmung“ oder eines mit anderen Mitteln nur schwer darstellbaren „Denkzusammenhangs“ und durch häufiges Lesen „erhöht [sich] das Vergnügen und die Orientierung [an ihnen] beträchtlich“.

Ein „allgemeines Regelwerk“ für gute Gedichte gibt es nicht. Über misslungene Gedichte lässt sich sehr viel leichter reden und argumentieren als über gelungene.

                                                                                      

Diese ausgewählten Qualitätskriterien eines erfahrenen Kritikers und langjährigen Herausgebers von Lyrik sollte jeder beherzigen, der mit dem Schreiben von Gedichten beschäftigt ist, damit ihm seine Ziele, Möglichkeiten und Grenzen klar werden, um  einer Fehleinschätzung

des eigenen Schaffens vorzubeugen.

 

 

Wenn alle, die Gedichte schreiben, auch Gedichte läsen,

würden sie das, was sie schreiben, nicht immer für Gedichte halten.

 

 

 

 

 

 

Thomas Wieke in einem Online-Interview auf SWR 1 vom März 2008: Lauter Lyrik! Deutschland dichtet wieder (ARD Mediathek)


 

Thomas WiekeGedichte schreiben. Gebundene und freie Lyrik schreiben lernen & veröffent-lichen, 255 Seiten, 14,90 €. Autorenhaus Verlag, Berlin 2004. ISBN 3-932909-37-2

Martina WeberLyrik schreiben und veröffentlichen. Zwischen Handwerk und Inspiration, 238 Seiten, 18,90 €. Uschtrin Verlag, München 2008. ISBN 978-3-932522-09-3

                                                      Ulla Hahn: Dichter in der Welt,  316 Seiten,                                                         Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2006.


 

 

 

Leben im Labor

 

Robert Gernhardt (1937 - 2006) hat am 16. Februar 2004 im Kurhaus von Baden-Baden "Über einige [persönliche] Erfahrungen beim Verfassen von Gedichten" einen öffentlichen Vortrag gehalten, den er "Leben im Labor" genannt hat. Der Südwest-rundfunk SWR hat diese Veranstaltung mitgeschnitten und als DVD bei Quartino GmbH, München 2010, herausgebracht. Die DVD (Laufzeit 45 Minuten) ist auch bei JOKERS erhältlich. Ich möchte hier zunächst nur auf den Vortrag hinweisen und evtl. gelegentlich näher darauf eingehen.

 

 

Worüber soll ich schreiben?

 

Der Schriftsteller Andreas Maier (geb. 1967 in Bad Nauheim) hat in einer Beilage zur Wochenzeitung „DIE ZEIT“ (ZEIT LITERATUR, Nr. 50 vom Dezember 2011) über das Thema „Was die Literatur mit dem Leben und das Leben mit der Literatur macht“ einen Artikel verfasst, der den Themen nachspürt, worüber Menschen schreiben. Mich hat der Artikel dazu angeregt, einen Teil seiner Gedanken in dem folgenden Gedicht zusammenzufassen.

 

 

MANFRED BURBA

Leben und Schreiben

 

 

Worüber soll ich schreiben?

Über das, was ich nicht erlebt habe

und nicht kenne,

über das, was mich interessant macht,

weil ich es erlebt habe

oder über etwas Allgemeines,

Diffuses, nichts Wichtiges,

hinter dem aber ganz und gar

sichtbar wird:

 

was ich bin,

wieso ich so bin und

wie ich eigentlich sein sollte.

 

Darüber möchte ich schreiben,

auch wenn man es nicht gleich erkennt,

weil ich scheinbar über etwas ganz

Anderes schreibe.

 

 

Es ist klar, welche Position des Schreibens Andreas Maier einnimmt. Dass es schwer ist, sich als Schriftsteller in dieser Position auszudrücken, will ich ihm gerne glauben. Man schreibt über nichts und legt dennoch "eine Art totales, unwiderruf-liches Selbstzeugnis" ab. Auch der Leser hat damit seine Schwierigkeiten!